Interview Ranga Yogeshwar – „Das Internet ist kein Isomorphismus des Lebens“

Ranga Yogeshwar ist der einflussreichste deutsche Wissenschaftsjournalist. Er schreckt weder vor komplizierten Themen noch gewagten Selbstversuchen zurück. Im Gespräch mit TVinfo kritisiert er unsere Abhängigkeit von Internetkonzernen und fordert eine europäische Suchmaschine.

Ranga Yogeshwar

TVinfo: Vor kurzem ging durch die Medien, dass die Zahl Pi auf 10 Billionen Stellen ausgerechnet worden ist. Warum hat das so viel Aufmerksamkeit erregt?

Ranga Yogeshwar: Das Ausrechnen der Nachkommastellen von Pi ist nicht nur ein Beleg für gute Algorithmen, sondern auch eine sehr gute Rechenleistung. Das ist nichts, was die Welt per se braucht. Aber wenn Sie an Verschlüsselungstechniken denken, die Sie im Alltag zum Beispiel für Ihre Kreditkartendaten brauchen, dann sind genau solche leistungsfähigen Algorithmen wichtig. Aber es geht noch um etwas Anderes: Seit vielen tausenden Jahren versuchen wir, die Welt mathematisch zu beschreiben. Und die Frage, die dabei immer wieder aufkommt, lautet: Ist diese Mathematik ein reines Konstrukt des menschlichen Geistes, was losgelöst vom richtigen Leben ist, oder spiegeln wir mit der Mathematik tatsächlich soetwas wie eine innere Beziehung der Natur wider.

TVinfo: Wo finde ich solche Themen im Internet? Auf Wikipedia?

Ranga Yogeshwar: Wikipedia ist sicherlich als Start nicht schlecht. Der einzige Punkt ist nur, dass man Wikipedia interpretieren muss. Und das hängt davon ab, was für eine Fragestellung man hat. Wikipedia kann, wenn man genauer hinschaut, sicherlich nicht das leisten, was das klassische Standardlexikon bietet. Nämlich die Qualität, tatsächlich etwas unabhängig zu verifizieren. Wenn man im Detail hineinschaut, wird bei Wikipedia häufig tendenziell berichtet. Das ist sicherlich nicht immer offensichtlich. Aber es gibt Angriffe auf Personen oder Themen mit kommerzieller Relevanz. Dann ist Wikipedia mit Vorsicht zu genießen. Auch die Informationen bei Wikipedia sind nicht immer vollständig unabhängig.

TVinfo: Was ist der Grund für den enormen Erfolg von Wikipedia?

Ranga Yogeshwar: Wenn wir 100 Jahre zurückgehen, gab es das Riesenproblem in den breitesten Schichten der Bevölkerung, überhaupt an Informationen zu kommen. Wenn Sie - so wie ich im Moment - auf einem Dorf lebten, dann gab es kaum Bücher, und Sie mussten beispielsweise in die nächste Stadt fahren, um sich Informationen beschaffen zu können. Die Infrastruktur des Internets ist natürlich ideal, um Wissen zu teilen. Ich kann auf einem Kuhdorf plötzlich per Mausklick in Bibliotheken oder anderen Bereichen recherchieren - überhaupt an Wissen kommen. Dieses Teilen von Wissen wird dem ein oder anderen vielleicht sogar schon zu viel. Manchmal wird auch mehr geteilt, als urheberrechtlich erlaubt ist. Aber prinzipiell wollen wir einfach den Zugriff auf Information.

TVinfo: Also macht das Internet doch nicht dumm?

Ranga Yogeshwar: Das Internet selber macht überhaupt nichts, sondern die Frage ist: Was macht der jeweilige Benutzer? Ich kann mir vor meinem geistigen Auge zwei verschiedene Benutzer vorstellen. Der "dumme" Benutzer konsumiert das Internet so wie ein Softeis, der sich von all den kommerziellen Dingen verführen lässt, der im Wesentlichen irgendwelche Unterhaltungsmedien verfolgt und eigentlich am Ende des Tages merkt, dass das Internet ein Riesen-Zeitrauber ist. Auf der anderen Seite gibt es genauso die Möglichkeit, mithilfe des Internets zu teilen, mitzuteilen und tolle Dinge zu machen. Ich habe letzte Nacht dank des Internets die Herkules-Galaxien-Cluster mit meinem Teleskop verfolgt, und da ist das Internet sozusagen etwas völlig anderes. Da kann das Internet dazu führen, dass man sich mit tollen anderen Menschen austauscht, also Gedanken teilt.

TVinfo: Macht denn die Nutzung von Facebook dumm? Oder wenigstens unglücklich?

Ranga Yogeshwar: Nein. Vieles ist einfach neu. Ein Großteil der Infrastruktur im Internet ist nicht einmal zehn Jahre alt oder zehn Jahre jung. YouTube, Facebook, Skype, Spotify - das gab es vor 10 Jahren noch nicht. D.h. wir sind als Gesellschaft, als einzelner konfrontiert mit etwas qualitativ Neuem und wir müssen den Umgang damit zunehmend lernen. Zuerst ist da natürlich eine gewisse Euphorie bei dem einen oder anderen: Jetzt kann ich plötzlich alte Schulfreunde wiederfinden, jetzt kann ich mich mitteilen - viele Leute haben diese Art von Bedürfnis. Und mit der Zeit, nachdem die erste Euphorie verflogen ist, normalisiert sich das. Es gibt doch viele, die irgendwann wissen, Facebook und das Internet können vieles, aber nicht alles. Das Internet ist - wir haben vorhin von Mathematik gesprochen - kein Isomorphismus des Lebens, keine eins zu eins Abbildung. Sondern es ist ein Teil davon, den man sinnvoll nutzen kann, der aber nicht alles umfasst.

TVinfo: Wird denn das Internet vielleicht irgendwann eine eins zu eins Abbildung des Lebens? Entweder, weil das Internet eine immer bessere Auflösung hat? Oder weil wir unser Leben immer stärker darauf ausrichten, dass es im Internet abbildbar ist?

Ranga Yogeshwar: Das ist die alte Diskussion zu Computern und Nutzern: Wer programmiert wen? Werden wir durch die digitalen Instrumente, die wir haben, auch im Selbstbewusstsein zu digitalen Menschen werden, die irgendwann das Gefühl für die reale Welt verlieren? Ich glaube aber, dass die digitale Welt immer nur einen Teil unserer Welt widergeben kann, da wir selber nicht digital sind, sondern biologisch. Das richtige Leben hat eine gewaltige Stärke und Intensität. Natürlich ist es wichtig, dass wir unsere Freiheit immer noch erkennen und aktiv nutzen. Nur, weil es zum Beispiel Computer gibt, die Tag und Nacht funktionieren, heißt das nicht implizit, dass auch wir wie Maschinen Tag und Nacht funktionieren. Wir dürfen auch einmal ruhen, wir dürfen auch einmal offline und nicht erreichbar sein.

TVinfo: Sie hatten vorhin von den wirtschaftlichen Interessen gesprochen, die möglicherweise hinter einigen Internetseiten stehen. Wie sieht es denn mit den politischen Interessen aus? Ist es nicht die Erfüllung aller totalitären Träume, dass jemand durch die Positionierung eines Buttons entscheiden kann, ob und wie man etwas wahrnimmt und kommunizieren kann?

Ranga Yogeshwar: Ja. Das Bewusstsein dafür, dass diese Verführungsmöglichkeiten vorhanden sind, müssen wir wesentlich stärker entwickeln. Wir müssen einfach feststellen, dass zum Beispiel ein Großteil der Internet-Infrastruktur in US-amerikanischer Hand ist - von Wikipedia bis Facebook, von Google bis Apple. Die prüden Vorstellungen US-amerikanischer Moral beeinflussen schon ganz konkret, wie beispielsweise Inhalte auf diesen Plattformen präsentiert werden. Das zeigt schon für mich, dass da etwas passiert, was nicht gut ist. Der nächste Punkt ist die Intransparenz all dieser Infrastruktur. Wer steht oben bei Google, wenn ich suche? Was sind die Ordnungskategorien unserer digitalen Welt? Überall dort kann man natürlich nach und nach Dinge in dem ein oder anderen Sinne drehen. Das ist dann gefährlich, wenn es keine Alternativen gibt. Deswegen mein Appell: Europa sollte eine unabhängige Suchmaschine haben.

TVinfo: Wie können Politik und Öffentlichkeit denn diese technische Entwicklung beeinflussen?

Ranga Yogeshwar: Wir müssen eine Diskussion über diese Aspekte führen. Also: Wo werden Buttons positioniert? Was sind die Daten, die abgegriffen werden? Wie transparent funktioniert das? Was passiert eigentlich mit den Daten? Welche Nachrichten werden nach oben gesetzt? Das muss nicht immer politisch sein. Es können auch bestimmte kommerzielle Interessen sein, die bestimmten Themen nach oben setzen und andere nach unten setzen. Wenn ich als Journalist einen Artikel schreibe, der sich immer nur am Leser orientiert, dann verkenne ich, dass ich als Journalist auch die Aufgabe habe, dem Leser Orientierungshilfen zu geben. Und das bedeutet auch, dass ich Dinge beschreiben muss, die nicht wie Zuckerwasser heruntergehen.

TVinfo: Ist das durch die technischen Möglichkeiten des Internets leichter oder schwerer geworden?

Ranga Yogeshwar: Es gibt sehr gute Sites, aber es gibt auch Seiten, die nur von Clickrates leben. Die Nachrichten und Meldungen werden dort in einem Tempo veröffentlicht, bei dem man sich fragen muss, wieviel Reflexion, Recherche und Prüfung findet da noch statt. Es ist ein Kampf um Aufmerksamkeit geworden und nicht mehr ein Streben nach Wahrheit oder nach wirklich gut recherchierter Information. Das merken wir zum Beispiel sehr deutlich daran, dass die Schärfe von Skandalen in den letzten Jahren in einem hohen Maße zugenommen hat. Denken Sie nur einmal einfach an Menschen wie unseren ehemaligen Bundespräsidenten. Wir müssen sehr viel stärker reflektieren: Wo ist eine Grenze? Mit wie viel Unwissenheit darf man eigentlich Meldungen online stellen, die absolut keine Substanz haben? Ich kann Ihnen diverse Belege zeigen, wo solche Meldungen innerhalb von vier Tagen eine 180° Drehung machen. Trotzdem haben die Seiten profitiert, weil die Clickrates hoch waren.

TVinfo: Noch einmal zurück zur Frage der Suchmaschinen. Woran liegt es, dass es keine tatsächlich relevante Suchmaschinen-Alternative im demokratischen Europa gibt, aber im autoritären China?

Ranga Yogeshwar: China hat erkannt, dass wir in einer Zeit leben, in der das Prinzip "The winner takes it all" so dominant ist, dass - wenn man nicht aufpasst - andere Nationen wichtige Infrastruktur-Positionen besetzen. Und genau das passiert hier in Europa. Dadurch, dass man sein eigenes Facebook und sein eigenes Google macht, hat man eine Chance auf Unabhängigkeit. Wenn morgen die gesamte US-amerikanische Internet-Infrastruktur abgeschaltet wird, was sind dann die daraus resultierenden Konsequenzen? Diese Abhängigkeit ist zu groß und die Sensibilität unserer Politik dafür viel zu klein.

TVinfo: Zum Abschluss noch drei Vervollständigungssätze. Wenn ich es mir aussuchen könnte, dann wäre folgendes nie erfunden worden:

Ranga Yogeshwar: Der Bolzen des Maschinengewehres mit der Aufschrift DIN 1.

TVinfo: Gerne würde ich noch folgendes entdecken oder erfinden:

Ranga Yogeshwar: Eine gute Batterie, also einen guten Stromspeicher.

TVinfo: Dass es außerirdisches, intelligentes Leben gibt, halte ich für

Ranga Yogeshwar: Sehr wahrscheinlich. Jedoch ist es so weit weg, dass wir kaum miteinander in Dialog kommen werden.

TVinfo: Herr Yogeshwar, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Gespräch führten Markus Pins und Joachim Haag.

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